Muße als Widerstand. Jenny Odell – Nichts tun

In einer Welt, in der digitale Großkonzerne unsere Aufmerksamkeit binden und zu Geld machen, ist simples Nichtstun ein Akt des Widerstands. Warum der so nötig ist und wie wir uns unseren Spielraum zum Leben und Denken zurückerobern, darüber schreibt Jenny Odell in diesem aufrüttelnden Buch.

In ihrem Buch Nichts tun schreibt Jenny Odell über unser Digitalzeitalter und die Tendenz, jede unserer Minuten in Effizienz umzuwandeln. Durch die technischen Möglichkeiten können wir jede unserer Bewegungen tracken, analysieren und dann optimieren: die Schritte, die wir gehen, die Art und Weise, wie wir unsere Zeit einteilen, ja die Art und Weise, wie wir mit unseren Freunden kommunizieren.

Technische Großkonzerne haben dies erkannt und machen sich diese Entwicklung zunutze. In den sogenannten sozialen Medien stellen sie die Möglichkeit zur Verfügung, sich mit anderen Menschen zu verbinden. Eine tolle Idee: Die Verwandten in Guatemala sehen, einer Freundin aus den USA zum neuen Baby gratulieren und der Tante in Australien das frischgestrichene Wohnzimmer zeigen. Wunderbar.

Aber Großkonzerne bauen nicht komplizierte Algorithmen und betreiben keine kilometerlangen Serverfarmen, um unser Sozialleben zu bereichern. Was sie antreibt, ist: Cash. Und sie haben gute Wege gefunden, die Zeit, die wir auf Social Media verbringen, zu Geld zu machen.

Überzeugung per Design

Odell beschreibt die Idee des persuasive design, was man am ehesten mit überzeugendem Designübersetzen könnte. Die bekannten Social-Media-Plattformen sind alle nach den Maßstäben dieses Designs aufgebaut: Es enthält komplexe Erkenntnisse über die Art und Weise, wie wir Menschen psychologisch funktionieren, wie unser Hirn arbeitet, und nutzt die Schwachstellen unserer Spezies gezielt aus. Wozu? Um Sucht zu erzeugen.

Persuasives Design arbeitet mit Belohnung und Strafe, spielt mit unseren Emotionen. Es geht um Klicks und Dopaminkicks. Das Ziel des Ganzen? Unsere Aufmerksamkeit zu binden. Denn je länger wir vor dem Bildschirm sitzen, desto mehr Werbeanzeigen können uns ausgespielt werden und desto lauter klingeln die Kassen.

“Ich bin nicht gegen Technologie. Der Übeltäter ist hier nicht das Internet oder gar die Idee der sozialen Medien; es ist die invasive Logik der kommerziellen sozialen Medien und ihr finanzieller Anreiz, der uns permanent in einem profitablen Zustand aus Angst, Neid und Zerstreuung hält.“

– Jenny Odell, Nichts tun

Angst, Neid und Zerstreuung: Die kommerziellen sozialen Medien bringen nicht gerade das Beste in uns hervor. Sie halten uns im kollektiven Taumel von schlechten Nachrichten zum übermäßig strahlenden Glück, das immer nur die anderen leben, und garnieren das mit dem Zuckerguss von buntem Amüsement.

Leider ist das alles andere als harmlos. Denn das, was da online geschieht, hat längst reale Folgen: für jeden von uns persönlich und für uns alle, als Gesellschaft. Denn wer kümmert sich um die wirklich wichtigen Belange, wenn alle wahlweise paralysiert oder in hektischer Betriebsamkeit vor ihren Bildschirmen sitzen? Wer hat noch die Muße darüber nachzudenken, was wir im Leben wirklich wollen?

Muße als Akt des Widerstandes

Jenny Odell ist Künstlerin und kommt aus Oakland in Kalifornien. Sie entdeckte die Muße für sich, als sie 2017 nach der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika nicht mehr weiterwusste. Die Weltordnung war für sie aus den Angeln gehoben, jeder Blick auf das Smartphone barg eine weitere Katastrophe.

Sie suchte Zuflucht in einem öffentlichen Park, dem Rosengarten, in dem sie Tag für Tag Stunden verbrachte und – nichts tat. In der schönen Umgebung, die von Ehrenamtlichen liebevoll gepflegt wurde, erholte sich ihr geschundenes Herz und nicht weniger: ihr Hirn.

In den folgenden Monaten pflegte Odell ein völlig unproduktives Hobby: die Vogelbeobachtung. Wo immer sie war, ging sie nach draußen, setzte sich und begann, den Vögeln zu lauschen und nach ihnen Ausschau zu halten. Nach und nach lernte sie die verschiedenen Arten kennen. Mit diesem neuen Wissen tat sie: nichts. Doch es verband sie auf eine einzigartige Weise mit dem Ort, an dem sie sich befand und mit den Wesen, die diesen Ort mit ihr bewohnten.

Sie begann nachzudenken. Zu lesen und zu schreiben. Und entdeckte das enorme Potenzial des Widerstands, das darin bestand, einfach mal nichts zu tun. Sich dem Gebot der Produktivität einmal nicht zu beugen und die eigene Zeit nicht für irgendetwas zu nutzen.

Einladung zum Nichtstun

Odells Buch ist weniger eine wissenschaftliche Abhandlung als eine Einladung zu einem ausgedehnten Spaziergang. Wir verlassen mit ihr die eingelaufenen Pfade unseres Alltags, schweifen durch Raum und Zeit. Wir besuchen Diogenes in seinem Fass und lernen, was er mit heutigen Performancekünstlern gemein hat. Und wieviel Kraft in dem Satz Ich möchte lieber nicht steckt.

Dabei macht das Lesen von Nichts tun erstaunlich viel Arbeit – auf die wohltuende Art wie eine Wanderung anstrengend ist. Denn Odell kommt nicht einfach straight zum Punkt. Sie nimmt sich Zeit, ihre Argumentation zu entfalten und lässt ihre Ausführungen zwischen träumerischer Poesie und knallhartem Tech-Rationalismus hin und herpendeln. Die Wanderung, die wir als Leser mit ihr machen, führt tief ins Dickicht, doch immer, wenn man glaubt, man habe sich im Wald verirrt, führt Odell zielsicher zum Hauptweg zurück.

Nichts tun ist kein Ratgeber und kein Selbsthilfebuch. Es ist auch nicht die Aufforderung, gar nichts mehr zu tun – sie nennt es eher einen „Aktionsplan“. Der durchaus beinhalten kann, stundenlang im Park zu verweilen oder im Wald die Vögel zu beobachten. Es geht darum, sich der Logik der unendlichen Produktivität zu entziehen und das zu tun, was wir wollen. Und dadurch alles zu gewinnen: den Kontakt mit uns, unseren Lieben und unserer Umwelt. 

Dieses Buch ist eine aufrüttelnde Lektüre, dabei aber überragend klug und besonnen. Es eröffnet einen Denkraum. Und den, da bin ich mir sicher, brauchen wir alle.

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