Buchtipp: Schreibtisch mit Aussicht. Schriftstellerinnen über ihr Schreiben

Große Literatur wird nur von Männern verfasst – in abgeschiedenen Waldhütten fernab der Zivilisation? Fehlanzeige. Hier zeigen 24 grandiose Schriftstellerinnen, die mitten im Leben stehen, wie große Literatur wirklich entsteht. Ein faszinierender Einblick in die Alltagswelt des Schreibens.

Wenn wir an die Verfasser großer Werke denken, dann sehen wir meist ehrwürdige Männer vor unserem inneren Auge, die sich mit überschlagenen Beinen in thronartigen Sesseln sitzend in den dichten Rauch ihrer Pfeife hüllen. Schwer vorstellbar, mit so einer Person an einem fleckigen Küchentisch zu sitzen, Kekse zu krümeln und bei einer Tasse Tee über Literatur und das Schreiben zu sprechen.

Dieses Bild des klassischen Schriftstellers ist so weit von jeglicher Lebensrealität entfernt, dass es schon fast grotesk ist. Dabei waren auch diese sogenannten Genies alle Menschen. Und nicht wenige von ihnen waren und sind Frauen.

Das Buch Schreibtisch mit Aussicht, herausgegeben von Ilka Piepgras, bricht in doppelter Hinsicht mit den herkömmlichen Vorstellungen von der Entstehung großer Kunst: mit der Annahme der absoluten Unabhängigkeit der Kunst vom alltäglichen Leben und dem weit verbreiteten Vorurteil, dass wirklich große Kunst nur von Männern stammt.

Ladies and gentlemen, damit wird hier gründlich aufgeräumt.

Schreibtisch mit Aussicht lädt uns in die gute Stube großer Frauen ein, deren literarische Werke für sich sprechen. Das Buch versammelt Texte von vierundzwanzig renommierten Schriftstellerinnen aus Europa und den USA, die darüber berichten, was vor, auf und hinter ihrem Schreibtisch vor sich geht – all das, was uns sonst verborgen bleibt: persönliche Schreibroutinen und Blockaden, emotionale Ausnahmezustände, flirrende Hoffnung und schreiende Versagensangst. 

Anstatt an ihrem eigenen Mythos zu arbeiten, zeigen sich diese Schriftstellerinnen als Mütter, Partnerinnen, Töchter, Freundinnen, Nachbarinnen und tief in ihre Arbeit versunkene Frauen. Sie haben nichts zu verbergen, und beim Blick über ihre Schulter gibt es zu gleichen Teilen Wunderbares, Fantastisches, Groteskes und Alltägliches zu entdecken – die ganze Palette menschlicher Existenz.

„Neulich stand ich auf dem Schulhof und wartete auf eins der Kinder, als eine andere Mutter auf mich zukam. >Haben Sie schon Arbeit gefunden?<, fragte sie. >Oder schreiben Sie nur?<“

– Anne Tyler, Ich schreibe nur

Schreibtisch mit Aussicht ist eine Pralinenschachtel voll mit köstlichen Alltagsminiaturen – mal süß, mal zartherb, mal bitter. Es ist ein Buch, in dem ich mich selbst wie in einem Spiegel erkannt habe – in der Unsicherheit der einen Frau dort, und in dem verschmitzten Größenwahn der anderen da. Ich habe den Balanceakt wiedererkannt, den es bedeutet, mit Kindern zu leben und gleichzeitig die tiefe Konzentration zu erlangen, die es zum Arbeiten braucht.

„Und so dauerte es ganze vier Jahre, bis ich die vier Kapitel tatsächlich wieder hervorholen konnte. Natürlich hatte ich fast niemandem von ihnen erzählt. Ich wollte keine von diesen Vorstadt-Muttis sein, die in ihrem Eigenheim hocken und davon reden, in Wirklichkeit große Künstlerinnen zu sein.“

– Katharina Hagena, Erinnern, vergessen, erfinden

Texte solcher Ehrlichkeit zu lesen, ist ein tiefer Trost. Da wir oft geneigt sind, die Schwierigkeiten, auf die wir stoßen, unseren eigenen Unzulänglichkeiten zuzuschreiben. Doch meine eigenen Kämpfe von so vielen unterschiedlichen Frauen aufgeschrieben und geschildert zu sehen, hat mich getröstet. Und mir Kraft gegeben, mit meiner Arbeit weiterzumachen – egal wie beißend die Selbstzweifel zuweilen sein mögen.

Denn wenn es etwas gibt, das diese Frauen gemeinsam haben, dann dieses: dass sie sich immer wieder an die Arbeit machen. Dass sie sich von allen emotionalen und alltäglichen Schieflagen nicht aufhalten lassen – egal wie zäh, schleppend und aussichtslos der Kampf auch scheint.

Und nicht nur Schriftstellerinnen, ja nicht nur Frauen finden sich in diesem Buch gespiegelt. Denn es erzählt von existenziellen Kämpfen, die uns alle angehen: vom Ringen mit der Welt und den eigenen Dämonen. Von eigenen Wünschen und fremden Erwartungen. Vom Streben nach äußerer Anerkennung und dem Bedürfnis vorurteilsfrei angenommen zu sein.

„Um zu überleben und zu wachsen, braucht der Mensch einen inneren Garten. Eine persönliche Wildnis, die niemand sieht. Einen Ort, den wir häufig und unbehelligt besuchen können; einen unsichtbaren Rückzugsort, um uns zu entgiften, negative Gedanken und schädliche Gefühle loszuwerden, unsere Wunden zu lecken und uns wieder aufzubauen; einen Platz, an dem wir reinen Herzens sein können, ohne zu urteilen oder beurteilt zu werden. Dieser schöne Ort ist das Land der Geschichten für mich. Das Land der Bücher.“

– Elif Shafak, Reisen einer Sprachnomadin

Schreibtisch mit Aussicht bietet einen solchen Ort. Einen geschützten Garten für heimlich gehegte Träume und kaum eingestandene Hoffnungen. Für Möglichkeiten, die uns zu fantastisch scheinen, um sie in Betracht zu ziehen; für eine innere Größe, die nur scheinbar niemals in die Enge unseres Alltags passt.

Die Frauen in diesem Buch haben einen solchen Ort für sich gefunden. Es ist kein mythischer Ort, es ist kein verwunschener Zaubergarten, es ist keine Wiese, auf der Einhörner grasen. Es ist ein Schreibtisch, und dieser steht mitten im Leben.

 

Das Buch

Ilka Piepgras (Hg.): Schreibtisch mit Aussicht. Schriftstellerinnen über ihr Leben. Erschienen 2020 bei Kein und Aber.

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